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Terra Incognita

 
Wolfgang Zurborn wurde anlässlich seines Buchs „dressur real“ von der Intendanz des Bielefelder Stadttheaters eingeladen, Aufnahmen für das Spielzeit-Heft 2002/2003 zu machen. Dabei behielt er freie Hand für eine durch und durch künstlerische Motivwahl. Entstanden ist eine ungewöhnliche Inszenierung öffentlicher Räume im Umfeld des Stadttheaters Bielefeld.
Die Intendantin Regula Gerber: „Wolfgangs Zurborns Arbeiten wollen Sie dazu animieren, Verborgenes in scheinbar Vertrautem zu entdecken und das unerkundete Gelände als Einladung zum sinnlichen und geistigen Abenteuer zu begreifen.“
 
Einzelausstellungen
2010 Terra Incognita
Fotofestival, Warschau, Polen
2004 Terra Incognita
L’Usine Galerie, Brüssel, Belgien
2003 Terra Incognita
Reger Forum, München, Deutschland
2002 Terra Incognita
Schauspielhaus, Bielefeld, Deutschland
 

Terra Incognita

von Peter V. Brinkemper

In Terra Incognita sondiert Wolfgang Zurborn die Inszenierung öffentlicher Räume im Umfeld des Stadttheaters Bielfeld. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen dem kultur- und geschichtsträchtigen Altstadtviertel und dem kahlen Parkhaus am riesigen Universitätsgelände. Nebeneinander finden wir Motive aus den Maschinenräumen der ehemaligen Seidenspinnerei im Ravensberger Park, Deko-Objekte in den Schaufenstern in der Einkaufsmeile am Niederwall, am Jahnplatz, oder Kulissen aus der Garten + Balkon Messe unter dem freien Himmel in der Nähe des Hauptbahnhofs.

In herben, stellenweise bunt aufleuchtenden Farbkompositionen blickt uns der Alltag mit neuen Augen an. Perspektivisch angeschrägte Ausschnitte und paradoxe Spiegelungen von Innen- und Außenräumen lenken unsere Wahrnehmung auf die Rampen des öffentlichen Lebens und führen uns gleichsam durch den geteilten Vorhang und hinter die Prospekte, dorthin, wo die Maschinerie der Stadt und das Arsenal ihrer Bühnentechnik nur halb verborgen ist. Und ganz nebenbei geht es an die historischen und industriellen Quellen der ostwestfälischen Kultur und nordrheinwestfälischen Bildung.

Wolfgang Zurborn arbeitet regelmäßig als Theaterfotograf für das Bielefelder Stadttheater, er begleitet Proben und Aufführungen, ist vertraut mit dem Zusammenspiel von Licht und Schatten, Mimik und Maske zwischen Fiktion und Täuschung.

Bei der Stadterkundung erleben wir Bielefeld mit den Augen des freien Künstlers Wolfgang Zurborn, des Fotografen des geteilten Blicks, der die Stereotype des Alltags, die “Dressur Real” der ganz normalen Dinge aufdeckt, zuspitzt und auflöst: Durch den produktiv verfremdenden Blick (Brechts Galilei), durch das experimentelle Sehen, dessen Kunstgriffe in vielerlei Hinsicht den Mitteln einer verblüffenden Theaterinszenierung gleichen. Die Bielefelder Welt erscheint als ein Zwischenreich und ein Proszenium, in dem Auftritte, Geschäfte und Dienstleistungen vorbereitet und sogleich abgewickelt werden.

Das Bild fungiert dabei als Schnittstelle für einen aktiven Betrachter, der sich entscheiden muß, wie er sich zu dem Motivausschnitt verhält. Indem die Fotografie den Zuschauer und die Welt auf die Probe stellt, verdichtet sich das Theater des Alltags zu einem greifbaren und veränderbaren Bild, in dem die Regie der Dinge und der Menschen verschlüsselt ist.

 

Rezensionen

reger forum

Wolfgang Zurborn
Kulturmagazin Applaus, 6/2003

von Rüdiger Heise

 

Dressur Real und Terra Incognita - oder: die Inszenierung der Wirklichkeit

Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung
Theater Bielefeld, 21.09. - 27.10.2002

von Peter V. Brinkemper

Wolfgang Zurborn arbeitet seit Jahren als Theaterfotograf für das Stadttheater Bielefeld. Er ist es gewohnt, die Inszenierungen auf der Bühne, die Proben und Aufführungen fotografisch zu begleiten. In der Welt des Theaters ist die Inszenierung ein feststehender Begriff. Die Bühne ist ein faszinierender Raum, den man auf vielfältige Weise mit Menschen, Schauspielern, Akteueren und Kulissen, mit dargestellten Figuren und dramatischen Situationen, stumm oder sprechend, bevölkern kann. Von der Bühnenkunst haben wir gelernt, daß die Art und Weise der Darstellung im öffentlichen Raum überall, in der Stadt, im Stadion, auf der politischen Bühne, in den Medien, wie wir nun sehr aktuell und geradezu endlos erfahren, etwas mit Inszenierung zu tun hat. Der urbane Raum ist eine unendliche, offene Bühne der Aufmerksamkeit, mit vielen Rampen, Ein- und Ausgängen, mit flexiblen Rollen zwischen Akteur und Beobachter, Künstler und Publikum. Heute und morgen fragen wir: Wer von den Kandidaten hat sich jetzt besser in Szene gesetzt? Hat er dabei eine PR-Rolle gespielt oder sich selbst vorgeführt? Und wir alle dürfen uns da nicht ausnehmen, sind wir selbst doch auch mehr oder minder ein Teil einer Inszenierung des öffentlichen Alltagsleben. Und von daher ist es nur logisch, wenn Wolfgang Zuborn heute als freier Künstler Fotografien ausstellt, die in Zusammenhang mit seinem Werk „Dressur Real“, mitten im städtischen Herzen Bielefelds entstanden sind. Die Bielefelder Serie trägt den Titel „Terra incognita“. Es geht also um die Entdeckung eines unverstellten Blicks, ein Aufmerksamwerden auf die Alltagsinszenierungen, aber auch auf die Zusammenhänge, die hinter den Inszenierungen stecken, hinter den Kulissen des Alltags, um ungewohnte Perspektiven, Blicke und Überlagerungen jenseits der Routine. Um zur Terra incognita zu kommen, bedarf es zunächst der Erkenntnis der üblichen Grenzen, in deren Schranken wir uns sonst Tag für Tag bewegen.

Tag für Tag präsentiert sich die Alltagswelt als eine Landschaft der Geläufigkeiten, als ein vertrauter Kosmos eingeübter Gewohnheit. Zwar treten immer wieder Störungen und Belästigungen auf. Aber solche Unebenheiten gleichen wir aus, indem wir uns auf den kleinen Königsweg etablierter Basisroutinen verlassen, um ein Mindestmaß an Zufriedenheit für uns und andere herzustellen. Die Verläßlichkeit von Menschen und Institutionen, die nützliche „Zuhandenheit“ (Heidegger) von Dingen schafft eine zugängliche Welt passender Angebote, ein Feld aktuell sich anbietender Eingriffsmöglichkeiten, greifbar vorgezeichneter Handlungsperspektiven. Im Idealfall durchqueren wir diese Landschaft der Geläufigkeiten mühelos, wie ein Spaziergänger, fast wie ein Tänzer, sozusagen mit einem Lied auf den Lippen.

Die Photographie bedient den Alltag allerdings recht zwiespältig. Zum üblichen Gebrauch von Werbung, Lifestyle, Mode, Unterhaltung, Information und Propaganda arbeitet sie an der Konstruktion konsumierbarer Bildwelten, die unsere Routinen der Wahrnehmung und des Handelns kommerziell umlenken, je nach dem bestärken oder abschwächen, und unser Selbstbild steuern sollen. Insofern nimmt die Photographie im Verbund mit anderen Medien und Technologien an der auffälligen Industrialisierung unserer Wahrnehmung und ständigen Überformung gewöhnlicher Tätigkeiten teil. Aus der Geläufigkeit indvidueller Handlungen erwächst sture Betriebsamkeit, aus dem Fluß autobiographischer Erlebnisse wird die verdinglichte Anschauungsform eines Kataloges des Neidvergleichs von finanzierbaren Lebensstadien, das Gewebe kollektiver Aktionen erstarrt zum festen Ritual ergoistisch durchkalkulierter Leistung und Gegenleistung. Die zwanglose Geselligkeit verkapselt sich zum sinnlosen Reservat auf vermintem Gelände, der soziale Raum schrumpft zum Verhau. Die Industrialisierung fragmentiert die Nischen des Alltags, sondert aus und schichtet um, nivelliert und vervielfältigt die verwertbaren Komponenten zu fremden Zwecken, die nicht mehr unmittelbar die unsrigen sind. Unsere existentielle Geläufigkeit wird unterbrochen. Das „Labyrinth der Zeichen“ lenkt uns um und schickt uns immer weiter fort.

Hier ereignet sich das, was Wolfgang Zurborn mit seinem widerspenstigem photographischen Humor als „Dressur Real“ bezeichnet.

Photographien, die auf konventionelle Weise werben, informieren, unterhalten, nehmen an der visuellen und urbanen Verdinglichung unserer Umwelt teil. Roland Barthes hat dazu in „Die helle Kammer“ (dt.,übers. v. D. Leube, F./M. 1989, S. 35) notiert: „Was ich für diese Photographien empfinde, unterliegt einem durchschnittlichen Affekt, fast könnte man sagen, einer Dressur.“

Ich empfinde routiniert, reagiere diszipliniert, auf die Normalität des abgebildeten Motivs und die Gewöhnlichkeit einer Information, selbst bei außergewöhnlichen Anlässen. Die Wirkung des Bildes und der ausgelöste Affekt unterliegen der zähmenden Kontrolle. Die Eindrücke werden durch einen Kanon vorgegebener Regeln gefiltert, es entsteht die Illussion des Déja-vu, wie bei einem vorrätigen Klavierton, der durch mechanischen Tastendruck abgerufen wird. Die Lust des Schauens wird zur Funktionslust des Wiedererkennens. Dinge, Bilder und Blick werden auf Re-Produktion dressiert, wobei die Dressur die Wahrnehmung, die Zucht die Hingabe und Beschäftigung mit dem Bild (Barthes: „studium“) um so stärker prägen, je weniger die Regeln der Reproduktion im Moment gegenwärtig sind. Meine Mitwirkung am Prozeß der Strukturierung und Deutung eines Bildmotivs bleibt passiv, vollzieht sich „ohne besondere Heftigkeit“ (Barthes), ohne Intensität, ich ordne das Bild bestimmten vorgegebenen Kategorien zu und beruhige so meine Lektüre, um mich möglichst schnell zufriedenzustellen. Ich konsumiere, ich verzehre das visuelle Angebot nach vorgegebenen Standards. Mein Konsum ist abgerichtetes Sehen, „Dressur Real“.

Wolfgang Zurborn hat diesen Prozeß der „Dressur Real“ selbst zum Thema einer reflexiven Photographie gemacht, die sich von Standards und Motiven nicht versklaven läßt, zu ihnen kühl auf Distanz geht, sie kühn umblättert und sie zugleich schwelgerisch verschlingt. Eine Photographie, die an die schlummernden Kräfte einer Wahrnehmung des aktiven, selbstbewußten und phantasivoll verändernden Blicks appelliert, der sich auf den Prozeß der Verrätselung und Befreiung, der schrittweisen Chiffrierung und Dekonstruktion von Bildzeichenwelten einläßt, um sie bis zur imaginativen Montage von heterogenen Elementen zu neuen, malerisch „surrealen“ Komplexen einer ausgelassenen Weltsicht zu steigern.

Dazu bedient sich Wolfgang Zurborn der Ästhetik des „geteilten Blicks“, der gezielten Unübersichtlichkeit und Verstellung des geometrisch bereinigten Bildraums, der Aufhebung der üblichen Maßstäbe von Einzelobjekt, Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Wenn man hier von einer Rhetorik sprechen kann, so von der Rhetorik der Verzerrung, der Transformation des Partikularen, in einer Sprache der massiven Zusammenballung, Ausdehnung und Überlagerung der Details, der Oberflächen, Töne, Schatten und Reflexe in der paradox widerstrebenden Montage poetischer Ding-Zonen. Durch und durch gewöhnliche und alltägliche Einzelheiten werden in stark begrenzten Aus- und Anschnitten von Standort und Herkunft abgetrennt. Eine oft flach gehaltene, immer hoch verschachtelnde Perspektive verfremdet die Elemente und komprimiert sie in die dynamische, rissige Spiegelfläche leuchtender Gemälde, schillernden Tanks, die die fotografische Künstlichkeit, die Strangeness des Realen feiern, ohne es in irgendeiner Weise digital manipuliert zu haben. Flirrende Elementarteilchen versammeln sich in einer optischen Kampfzone (Houellebecq), in der die plastische Gegenständlichkeit der Ausgangsmaterialien zum Karneval der Pop-Schimären mutiert. Die bunten Fragmente, ja Überreste der Natur, Technik und Architektur verschwören sich zu atmosphärisch zwielichtigen Konstellationen. Eine unbestechlich neugierige Kunst lauert der Realität so lange auf, bis sie den archimedischen Punkt erwischt, an dem sie der Wirklichkeit die Maske der realen Zurichtung abreißen kann. Freischwebende Motive, einmal dem vereindeutigenden Bildkonsum entzogen, geraten ins Gewässer optischer Komik. Das Gewöhnliche und das Befremdliche paaren sich mit dem Durchtriebenen. Dabei verantworten sich die Figurationen vor dem akribischen, ja bohrenden Ernst, der das visuelle Feld in seiner vielfältig abgestuften Materialität, Farbigkeit, Kontur und Schärfe bis zur völligen Abstraktion durchpflügt, um die konstitutive Fiktionalität des menschlichen Sehens freizulegen.

So wächst die Erkenntnis heran: Vom Standpunkt der Kunst aus betrachtet ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit eine ganz besondere Einübung, die fröhliche Dressur des Surrealen, Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (Nietzsche). Doch auch diese Einsicht ist diesseitig, ist von dieser Welt, sie ist ein Stück höherer Realismus. Es gibt keine Flucht auf einen außerweltlichen, unhistorischen Aussichtsturm der designten Photokunst, von dem aus die Welt neu erschaffen würde (keine „Dressage artificiel“), sondern nur die befreiende Arbeit am konkreten Blick, hier und jetzt, in der Landschaft unserer Geläufigkeiten.

 

Irritation zur Kenntlichkeit

Wolfgang Zurborn zeigt seine Terra Incognita im Stadttheater
Westfälische Zeitung, 24.09.2002
 

Theaterfotograf sieht die Welt neu

Bühnen der Stadt Bielefeld stellen Arbeiten von Wolfgang Zurborn aus
Neue Westfälische, 23.09.2002
 

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