DEEN

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Play Time

Play Time

Fotohof edition 2021
Band 332
ISBN 978-3-903334-32-8

272 Seiten mit 220 Farbabbildungen
Format: 21x27,6 cm
Flexocover
39,00 €

Begleitendes Booklet
Interview von Bill Kouwenhoven
mit Wolfgang Zurborn
24 Seiten mit 10 S/W-Abbildungen
Format: 13,5x21 cm

Gestaltung: Frederic Lezmi
Produktion: Druckhaus Kettler
Texte: Zitate von und über Jacques Tati

Special Edition
12 Motive
Auflage 20
FineArt Inkjet Drucke
auf Hahnemühle Papier “PhotoRag 308”
20x30 cm
 

Fotografien

 
Einzelausstellungen
2022 Play Time
Museum Tempelhof, Berlin, Deutschland
2021 International Meetings of Photography 2021
Certificate of Presence
Balabanova House, Plovdiv, Bulgarien
2020 Sights
Sights Iris BookCafè & Gallery, Cincinatti, Vereinigte Staaten
Gruppenausstellungen
2022 Schichtungen des Realen
Kunsthaus sans titre, Potsdam, Deutschland
25.09.2022 - 30.10.2022
2021 Listen to the Photographs
Pop-Up-Raum, Hamburg, Deutschland
2021 one artist - one minute
Künstler:innen aus 40 Jahren FOTOHOF
Stadtgalerie Lehen, Salzburg, Österreich
2020 Floating Identities
Kunsthaus sans titre, Potsdam, Deutschland
2019 Vonovia Award für Fotografie 2018 zum Thema “Zuhause”
Kommunale Galerie, Berlin, Deutschland
2019 German Street Photography Festival
Hamburg, Deutschland
 

„Sehen statt bedeuten wollen“

Interview von Bill Kouwenhoven mit Wolfgang Zurborn im begleitenden Booklet

mit Fotografien aus der Serie Vorgarten der Illusionen

BILL: Vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich Dich im Zusammenhang mit Deiner Publikation dressur real als den am wenigsten „deutschen“ deutschen Fotografen bezeichnet. Darin steckte natürlich ein Seitenhieb auf die Struffskys (Struth, Ruff, Gursky), die Becher-Schule und die Tillmans’ und Tellers aus der nachfolgenden Generation. Denkst Du, dass Du heute immer noch der am wenigsten „deutsche“ deutsche Fotograf bist – selbstverständlich nicht in irgendeinem „nationalistischen“, sondern im stilistischen Sinn?

WOLFGANG: Ja, ich denke schon. Es gibt inzwischen natürlich auch andere Strömungen in Deutschland als die Becher-Schule. Ein viel breiteres Spektrum künstlerischer Positionen wird hier kreiert, als international bekannt ist. Richtig ist, dass meine Wurzeln definitiv nicht in der deutschen Schule der Dokumentarfotografie liegen. Als ich in den 80er Jahren Fotografie in Dortmund studierte, wurde ich konfrontiert mit der Vorgabe, eine möglichst neutrale Darstellung von Lebensräumen zu entwickeln. Wirklichkeit wurde fast ausschließlich in menschenleeren Straßenzügen und trostlosen Hausfassaden erfasst. Ich muss sagen, dass in den Filmen von Jacques Tati, die ich in meiner Studienzeit für mich entdeckte, viel mehr von einer gesellschaftlichen Wirklichkeit mit all ihren grotesken Widersprüchlichkeiten zu erfahren war als im Versuch einer objektiven Betrachtung.

BILL: Tatis Ästhetik enthält viel „Leben und leben lassen“. Das Leben hat auch seine problematischen Seiten, wie jetzt, wo wir mit Covid-19 samt Auswirkungen konfrontiert sind, aber man muss einen Weg finden, wie man damit zurechtkommt und seinen Sinn für Humor behält.

WOLFGANG: Absolut. Humor ist für mich eine extrem wichtige Ebene meiner Arbeit und fehlt mir in einflussreichen Positionen deutscher Fotografie am meisten. Da ist selten eine Spur von Selbstironie zu entdecken. Es dominiert der Glaube, man könnte eine wissenschaftlich nüchterne Katalogisierung der Welt schaffen, und dieser Gedanke war mir immer zutiefst suspekt. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht trotzdem viele Positionen ob ihrer fotografischen Leistung und Rolle in der Geschichte der Fotografie respektiere.

BILL: Du stehst also an einem Gegenpol zu den Traditionen der Neuen Sachlichkeit. Lange Zeit war diese Strömung in Kunst und Fotografie ja derart dominant, dass sie eine eine Art Tunnelblick entstehen ließ und die Lehre in manchen führenden Fotografieklassen wie in Düsseldorf oder Yale tief geprägt hat. Mich würde interessieren, wie wichtig es ist, dass Du in Köln lebst und nicht in Düsseldorf?

WOLFGANG: Eine wirklich überraschende Frage. Es gibt natürlich den immerwährenden Konflikt mit langen historischen Wurzeln zwischen Köln und Düsseldorf, der zugleich auf spaßige und ernsthafte Art ausgetragen wird, eine Art Hassliebe. Obwohl die Städte so nah aneinander liegen, sind sie doch von einem anderen Lebensgefühl geprägt. Mich hat es immer eher nach Köln gezogen. Seit fünfunddreißig Jahren leite ich dort zusammen mit Tina Schelhorn die Galerie Lichtblick, um einen vitalen Ort für die Vermittlung unterschiedlichster Positionen künstlerischer Fotografie zu schaffen. Eine ganz andere Erfahrung in Köln war das Erleben des Karnevals. Zuvor eher sehr skeptisch gegenüber Menschenmassen, habe ich ihn als ein Theater des realen Lebens in den Straßen wahrgenommen. Theatralität und Wahrhaftigkeit habe ich nicht mehr als Gegensatz empfunden. Diesen weltoffenen Blick verbinde ich sehr stark mit Köln.

BILL: Aber Karneval wird überall im Rheinland gefeiert. Gibt es irgendwelche sonstigen Unterschiede zwischen Düsseldorf und Köln? Wie macht sich das andere Lebensgefühl bemerkbar?

 

WOLFGANG: Da kommt mir ein Zitat in den Sinn: „Düsseldorf sieht so aus, wie es aussieht, weil die Werbefotografen an die Mythen glauben, die sie produzieren.“ Düsseldorf ist schon eine Stadt, die von Mode und Werbung stark geprägt ist. Ich empfinde sie glatter als Köln, einem für mich heterogeneren Gebilde unterschiedlichster sozialer Schichten, zugleich Arbeiter-, Medienund Kunststadt. Der Leitspruch in Köln „Lass jeden Jeck machen“ als Ausdruck einer liberalen Haltung gegenüber Andersdenkenden ist für mich nicht nur Legende. Unkonventionelles Handeln kann hier seinen Raum finden. Viel von dem Lebensgefühl in Köln ist auch in den Fotografien von Chargesheimer aus den 50er Jahren zu sehen. Er war eigentlich der einzige wirkliche frühe Straßenfotograf in Deutschland, der das Leben in den Straßen ungeschminkt eingefangen hat.

BILL: Heinrich Zille hat das Straßenleben von Berlin in seine Skizzen und Fotografien übertragen. In seiner Arbeit ist etwas von „süß aber absurd“: Seine Version des Alltagslebens erinnert mich an Szenen aus einem Fellini-Film.

WOLFGANG: Ja, da gebe ich Dir Recht. Auch er ist ein sehr früher Vertreter einer Art Street Photography in Deutschland. Von diesen Ausnahmen abgesehen, gibt es aber ganz wenig Fotografie in den Straßen, weil in deutscher Fotografie der Zufall und das Momenthafte oft ausgeschlossen und als etwas Beliebiges, Unkonzeptionelles betrachtet werden. Das war für mich völlig unverständlich, da ich die besondere Qualität des Mediums Fotografie gerade darin gesehen habe, ungestellte Aufnahmen von Alltagssituationen schaffen zu können. Ich bin in meiner Arbeit mehr von amerikanischer Fotografie geprägt, wie zum Beispiel von Lee Friedlander, den ich verehrt habe.

BILL: Wie steht es mit Garry Winogrand?

WOLFGANG: Ja sicher. Natürlich. Garry Winogrand und auch William Eggleston. Die amerikanische Form von Street Photography und Dokumentarfotografie hat mich schon immer am meisten beeinflusst. Während meines Studiums habe ich ein Referat über Walker Evans gehalten, der mich sehr stark geprägt hat. Er sagt nie, dass er mit seiner Fotografie die Wirklichkeit objektiv abbilden will, sondern versteht sie als höchstmöglichen subjektiven Ausdruck. So spricht er auch von einem dokumentarischen Stil, bei dem er im Dialog mit der Wirklichkeit Bilder findet, die zugleich inneren Bildern entsprechen. Es geht nicht darum, eine Subjektivität zu unterdrücken, um zu einem objektiven, richtigen Bild der Welt zu kommen. Diese restriktive Idee deutscher Dokumentarfotografie ist in amerikanischer Dokumentarfotografie nicht existent.

BILL: Zwei Fragen: Wie hat sich Dein Werk entwickelt in den zwanzig Jahren, die wir uns kennen? Und sehr interessieren würde mich auch eine Sache, die mir durch den Kopf ging, als ich durchblätterte. Lass es mich so formulieren: Typischerweise bilden Farbfotografien – besonders auf der Straße entstandene – als soziale Momentaufnahmen zeitspezifische Kleidermoden, Haarschnitte, Autos und Werbungen ab und wirken deshalb schnell historisch konnotiert. Deine Fotografien aus sehen dagegen relativ zeitlos aus. Sie könnten irgendwann in den letzten dreißig Jahren entstanden sein (außer wenn etwa bestimmte Filmplakate oder Comicfiguren auftauchen). Auf den Bildern sind verhältnismäßig wenig Menschen zu sehen, und die Situationen, die Du fotografierst, könnten sich so in fast jeder industriellen oder postindustriellen Stadt ereignet haben. Die Melange von Bildern aus drei Kontinenten über fünf Jahre hinweg ist im Endeffekt zeitlos. So etwas ist in der Farbfotografie selten, um nicht zu sagen seltsam. Wie kommt das?

 

WOLFGANG: In meiner Serie Menschenbilder – Bildermenschen aus den 80er Jahre habe ich Menschen bei Massenveranstaltungen fotografiert. Dabei war es für mich noch sehr wichtig, den Menschen in seiner Umgebung zu zeigen und mit einer situativen Fotografie komplexe Momente einzufangen. Nach Beendigung dieser Serie kam für mich die Frage auf, wie ich meine Fotografie weiterentwickeln kann. Mir wurde bewusst, dass der Kern meines fotografischen Anliegens nicht die Erfassung der ironisch witzigen oder, wie des Öfteren bei Martin Parr, sarkastischen Augenblicke des Alltags ist. Es wurde für mich wichtiger, die Mehrdeutigkeit der Bilder zu betonen. So fügte ich in meiner Serie Im Labyrinth der Zeichen aus den frühen 90er Jahren fragmentarischausschnitthafte und aus ungewöhnlichen Perspekten aufgenommene Foto- grafien zu Montagen zusammen und schuf dadurch eine Art Bilderrätsel. Der Betrachter wurde dementsprechend gefordert, genau hinzuschauen und sich auf vielschichtige assoziative Verkettungen von Bildinhalten einzulassen. Die Technik der Montage ist bei dem darauf folgenden Buchprojekt dressur real übergegangen in eine unkonventionelle Form des Editierens von Einzelbildern. Situative Aufnahmen von Straßenszenen und abstrahierte Fotografien von Requisiten des Alltags habe ich in einem Bildflow so kombiniert, dass wie bei einem filmischen Zoom ein Wechsel von Detailansicht und Totale entstanden ist. Bei dem Buch Drift aus dem Jahr 2001 habe ich dann konsequent nur noch Hochformate ausgewählt, in denen ich eine fotografische Stilistik entwickelt habe, die sich auf der Schnittstelle von Abbild und Imagination, Dokument und Verrätselung bewegt. Alle Bilder besitzen eine Mehrdeutigkeit und lösen sich dabei oft vom realen Zeitgeist los, wodurch sie, wie Du ja schon gesagt hast, auch zeitloser sind. Wichtig ist für mich, dass die Bilder zu Katalysatoren für die Fantasie des Betrachters werden.

BILL: Der Kontext ist weggenommen, und dadurch entsteht eine Art Alltagssurrealismus. Viele von diesen Bildern haben mit Reflexionen, perspektivischen Verzerrungen durch Spiegel und Schaufenster, Plexiglashäuschen an Bushaltestellen und dergleichen zu tun. Man sieht etwas halb, und etwas völlig anderes wird partiell gespiegelt. Oder es kommt zu einem Nebeneinander von Dingen, wie es sie überall gibt, die aber die meisten von uns komplett übersehen. Wie hast Du im Laufe der Jahre Dein Auge darauf geschult, solchen Motiven zu begegnen?

WOLFGANG: Bei der Arbeit an den Bildmontagen für die Serie Im Labyrinth der Zeichen konnte ich bis zum Letzten ausloten, wie ausschnitthaft der Blick sein kann, ohne konkrete Bezüge zur realen Welt aufzugeben, wie ich die formale Verdichtung von Bildräumen auf die Spitze treiben kann, ohne mich in reiner Ästhetik zu verlaufen. Es ist mir sehr wichtig, dass beim Durchblättern des Buches wie in einer Collage die unterschiedlichen Aspekte des heutigen Lebens in gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Zusammenhängen auftauchen. Bei dem Buch habe ich besonderen Wert darauf gelegt, einen größeren Umfang von Bildern zu zeigen, damit der Betrachter wirklich hereingesogen wird, sich verlieren kann, um dann auch wieder die Orientierung untitled, Bottrop, 1984 in der Vielschichtigkeit des Dargestellten zu finden. Die Fragmentierung der Bildinhalte habe ich dabei gegenüber den früheren Arbeiten nochmals forciert. Dies ist auch verursacht durch die Änderung der Aufnahmetechnik, weil ich früher mit Mittelformat analog auf Negativmaterial gearbeitet habe und jetzt zur digitalen Fotografie umgeschwenkt bin. Die Variierung der Perspektiven ist bei der digitalen Fotografie einfacher. Bei der analogen Fotografie hatte ich eine größere Distanz zum Fotografierten. Im Laufe der Arbeit ist darüber hinaus das Bewusstsein gewachsen, gleich in Büchern zu denken. Hätte ich früher Angst gehabt, bei einer zu starken Nahsicht jeglichen inhaltlichen Zusammenhang zu verlieren, ist mir jetzt bewusst, dass ich in einem Buch durch die Addition auf der Doppelseite wieder Kontexte herstellen kann. Insgesamt hat sich das Bewusstsein immer mehr geschärft, mit einer fotografischen Arbeit eine Konstruktion von Wirklichkeit zu schaffen. Das ist ein sehr anderer Ansatz als in meiner früheren Arbeit Menschenbilder – Bildermenschen, wo die ganze Geschichte in einem Bild erzählt werden musste, was mich manchmal auch zum Wahnsinn getrieben hat.
 

BILL: In den letzten fünfzehn Jahren hast Du zahllose Workshops in aller Welt geleitet. Haben die Workshops eine Rückwirkung oder einen direkten Impuls auf Dich ausgeübt, so dass Du anders siehst, oder hast Du von den Student/ Innen lernen können? Wie hat das für Dich funktioniert?

WOLFGANG: Ich muss sagen, dass ich extrem viel von den eigenen Workshops lerne und es nie so empfunden habe, dass die Workshops mir die Energie für meine eigene Arbeit abgegraben hätten. Wenn die Student/Innen Arbeiten auf den Tisch legen und Du in kürzester Zeit die Arbeit analysieren musst, ohne die Persönlichkeit aus den Augen zu verlieren, dann hängt es von Dir ab, ob der Mensch, dem Du jetzt eine Kritik gibst, eine Perspektive bekommt, weiter daran arbeiten zu können. Dabei musst Du sehr offen sein für unterschiedliche Strategien. Wenn Du zu dominant Deine eigene Haltung als massgeblich in den Raum stellst, wird das nicht funktionieren. Eine Offenheit entwickeln zu können, ohne sich dabei zu verlaufen, ist für mich ein wertvolles Resultat dieser Workshops und das hat auch einen großen Impuls auf das eigene Werk. Davon wird auch der Spirit von getragen. Es geht nicht darum, eine fotografische Sicht als die richtige hinzustellen oder ideologische Behauptungen visuell zu untermauern. Die Fotografie verstehe ich als ein wunderbares Medium des Dialogs mit der Welt, das im Quersehen eine Hinterfragung zeitgenössischer Lebensformen ermöglicht. „Listen to the photographs“ ist eine wichtige Devise für meine Kurse. Im Zusammenwirken eines intuitiven Prozesses des Fotografierens mit dem konzeptionellen Erarbeiten eines Edits entstehen für mich die stärksten Arbeiten. Die Vorgabe zu starrer Konzepte oder klar definierter Themen degradiert fotografische Bilder zu Illustrationen von Text. Bilder haben aber ihre ganz eigene Sprache, und diese individuell zu entwickeln ist das Ziel aller meiner Workshops.

BILL: Fotografierst Du in Shanghai anders als in New Delhi oder in Köln? Selbstverständlich lässt Du Dich durch Deine jeweilige Umgebung führen, aber manchmal sehe ich kaum besondere Unterschiede zwischen Deinen Bildern aus verschiedenen Ländern. Mir scheint, Du fotografierst überall ähnlich und baust Deine eigene visuelle Welt auf.

WOLFGANG: Ja, ich denke dass alle Fotograf/Innen ihre inneren Bilder mit sich tragen, aber es ist wichtig, dass sie sich an wechselnden Umgebungen unterschiedlich reiben, dass der Blick nicht zu routiniert wird. Wenn man genau auf Karma Driver, mein Buch über Indien aus dem Jahr 2018, schaut, wird man einen großen Unterschied zu sehen. In Indien war es mir wichtig, klassische querformatige Street Photography mit Szenen aus indischen Megacities in das Projekt mit einzubeziehen, da diese das Lebensgefühl, das Chaos im öffentlichen Raum ausdrucksstark vermitteln können. Zusammen mit hochformatigen stärker abstrahierten Bildern von Symbolen westlicher und östlicher Alltagskultur erzeugen sie einen Bilderstrom, aus dem kein Weg hinausführt. Die Art der Zusammenstellung von Doppelseiten in all meinen bisher erschienenen Büchern variiert sehr stark und evoziert unterschiedliche Leseweisen der Bilder. Grundsätzlich kann man sagen, dass meine Fotografien aus Deutschland oft verrätselter und eher abstrahierter sind, weil mir die Welt vertraut ist und Aufnahmen von ihr nur Sinn für mich machen, wenn auf der Bildebene etwas Neues passiert. Ein bloßes Abbild würde mich nicht befriedigen. In anderen Ländern ist auch die Ausgangslage oft eine andere, da die Umgebung für mich fremder und damit der Weg frei ist für eine neugierige Erkundung der realen Alltagswelten. Das kann man zum Beispiel auch sehr gut in meiner Serie China! Which China? sehen, die ich 2008 als großformatiges Leporello publiziert habe.

BILL: Mir kommen bei Deinen Bildern auch immer die zerrissenen Plakate in den Sinn, die Robert Rauschenberg und ein wenig auch Andy Warhol berühmt gemacht haben. Sie enthalten mehrere Ebenen, Schichten, Überlagerungen unterschiedlicher Bildsprachen und Genres, die alle zur selben Zeit im selben visuellen Bildraum existieren, selbst wenn sie auf neuere Plakate aufgeklebt wurden. Sie sind nicht konzipiert wie „Collage“-Collagen eines Künstlers, sondern sind Zufallsskulpturen und Fundbilder, wie sie uns täglich in der Welt um uns herum begegnen. Das fasziniert mich, und Du hast viele davon in Deiner Bildersammlung.

WOLFGANG: Ja das ist definitiv ein wichtiger Einfluss. Rauschenberg hat auf jeden Fall mehr Einfluss auf meine Fotografie als die Becher-Schule. Ich liebe das Werk von Rauschenberg und war sehr glücklich, ihn persönlich kennen- zulernen und zu erfahren, dass er auch mit meinen fotografischen Arbeiten etwas anfangen konnte. Maler reagieren oft stärker auf meine Bilder als pure Fotografen. In der amerikanischen Presse wurde auch der direkte Bezug zu amerikanischer Pop-Art-Malerei hergestellt, speziell zu James Rosenquist. Über meine Ausstellung in der „Photographs Do not bend Gallery“ schrieb die Dallas News, das Ungewöhnliche der Bilder bestehe darin, dass sie auf der einen Seite banalste Alltagsrealität abbilden, diese aber auf der anderen Seite sehr stark überhöhen, weil es Bilder seien, die wie ein Gemälde bis in die letze Ecke durchkomponiert sind. Darin liegt letztlich der Witz der Bilder – was in Deutschland in dieser Form selten so wahrgenommen wurde. Der Reiz besteht weniger in einer offensichtlichen Pointe, sondern im oft grotesken Zusammenwirken verschiedener Bildebenen. Das ist für mich auch einer der wesentlichen Parallelen zu dem Film Playtime. Wenn man die am Flughafen angesiedelte erste Szene anschaut, passiert darin eigentlich nichts Besonderes. Da ist nur eine lange Kameraeinstellung, aber dieses Bild allein ist schon so komisch, dass ich beim ersten Schauen auf dem Boden lag vor Lachen. Es ist genial, dass der Humor nicht darin besteht, sich mit einem Gag lustig über die Leute zu machen. Das würde ich für mich komplett ablehnen. Darin liegt für mich auch die Geistesverwandschaft zu Jacques Tati. Dabei ist mir klar, dass meine Fotografien im Buch stilistisch natürlich vollkommen anders sind als seine Filmbilder. Das ist für mich auch sehr wichtig, da ich seine Bilder nicht kopieren möchte. Was beide miteinander verbindet, ist ein humorvoll kritischer Blick auf die Moderne.

 

BILL: Was Du siehst und was Du findest, steht Dir ja vor Augen und damit auch vor Deiner Kamera. Etliche andere Leute haben diese Dinge ebenfalls vor sich und ihren Kameras, aber nehmen sie nicht zur Kenntnis, weil sie entweder mit ihrer Arbeit beschäftigt sind oder ihren eigenen Gedanken nachhängen. Diese Dinge, diese Bilder sind aber dafür da, gefunden zu werden, wenn man denn die Augen hat, sie zu sehen.

WOLFGANG: Auf genau diesen Punkt bin ich in den Zitaten von Jacques Tati gestoßen. Er erklärt, das Wichtigste, was man später einmal über ihn sagen solle, sei, dass er sehen gelernt hat. Das ist etwas Besonderes in der modernen Gesellschaft, in der die Menschen eigentlich darauf konditioniert sind, nur zu sehen, was in das funktionierende System passt. Ein Motto meiner Workshops ist auch „Sehen statt bedeuten wollen“. Es geht nicht darum, Bilder zu finden, mit denen ich eine eindeutige Aussage schaffen will, sondern zuerst mal darum, überhaupt etwas zu sehen, was dem subjektiven Empfinden einen Ausdruck verleiht. Diese Bilder kann man überall oder nirgendwo finden. Das ist nicht planbar, und so war es bei dem Buch für mich wichtig, Orte aufzusuchen, bei denen ich nicht wusste, was mich erwartet. Ich habe mich morgens gefragt, wo fahre ich heute hin? In welcher Stadt war ich noch nicht? So landete ich dann in Mönchengladbach oder Neuss, bewusst unspektakulären Orten, ohne einen besonderen Event zu besuchen. Das stellt auch eine wesentliche Änderung gegenüber Menschenbilder – Bildermenschen dar, wo ich gezielt Massenveranstaltungen politischer, sportlicher und kultureller Art besucht habe, um Aussagen über die Eventkultur zu treffen. Eine Haltung, die sich durch alle meine fotografischen Arbeiten durchzieht, besteht darin, dass ich in meinen Bildern Ordnungen schaffen will, die das Chaos nicht verraten. Es geht nicht darum, die Welt aufzuräumen, sondern das alltägliche Chaos zu strukturieren, erfahrbar zu machen. So waren bei den Szenen von Massenveranstaltungen aus den 80er Jahren auf verschiedenen Bildebenen oft mehr als zwanzig Personen auf einmal zu sehen, womit diese Fotografien wohl am nächsten an der Ästhetik der Filmbilder von Playtime liegen. Das Narrative, Momenthafte, Collagierende, Verrätselnde und Abstrahierende als unterschiedliche Ebenen meiner fotografischen Bildsprache fließt für mich bei meinem Buch jetzt spielerisch ineinander.

BILL: Es ist schon wunderbar, wenn die Welt mit den eigenen Bildern harmonisch zusammenwirkt und umgekehrt. Und es stellt eine schöne Verschmelzung von Perspektiven dar.

WOLFGANG: Wenn ich jetzt während des Corona Lockdowns mein Archiv mit frühen Aufnahmen aus den 80er Jahren aufarbeite und Hunderte von Bildern mit Menschen bei Massenveranstaltungen scanne, wird mir bewusst, dass ich in der Art, wie ich Menschen damals fotografiert habe – mit Blitz und Mittelformatkamera, einen Meter vor den Leuten stehend –, mittlerweile nicht mehr arbeiten könnte. Heute würde ich wohl in kürzester Zeit abgeführt werden. Die Situation hat sich vollkommen geändert, und als Fotograf muss man natürlich darauf reagieren. Das bedeutet für mich nicht, dass ich jetzt aus dieser Not heraus keine Menschen mehr im öffentlichen Raum abbilde. Die Neuformulierung der Bildsprache in Play Time hat andere Gründe. Im Vordergrund steht jetzt eine Vieldeutigkeit und die Lust am Sehen, auch wenn die ganze Serie letztlich eine Kritik an der modernen Gesellschaft und ihren Wertvorstellungen beinhaltet. Auch Jacques Tati ist in seinem Film ein scharfsinniger Kritiker der Moderne, ohne dabei ein Traditionalist oder der Romantiker zu sein, der die Entwicklungen der zeitgenössischen Welt grundsätzlich ablehnt. Auch bei ihm ist es eine Hassliebe, da er sonst wohl kaum den immensen Aufwand betrieben hätte, mit Tativille eine eigene Stadt als Kulisse für den Film aufzubauen. In seiner Haltung gibt es kein einfaches Gut und Böse. Ein weiterer verbindender Punkt zur Welt von Tati ist die Liebe zum Tanz. Tati kommt aus der Welt der Pantomime und der Music Hall, daher spielen Bewegung und Tanz für ihn eine ganz wichtige Rolle. Es gibt die Tanzszene am Ende des Films Playtime, bei der die Dekoration und Architektur des Nachtlokals zusammenbricht und am Ende eine wilde Party steigt und alles in einem lebensfrohen Chaos endet. Diese Szene ist für mich auch ein Auslöser gewesen, der mich ermutigt hat, mit Tanzeinlagen so manche konventionelle Events aufzubrechen. Das ist mir erst später bewusst geworden und spielt trotzdem eine sehr große Rolle für mich. Es geht um eine körperliche Erfahrung der Welt und nicht um eine ausgedachte.

BILL: Ich war immer ein Fellini-Freak und bin zu Tati erst viel später gekommen. Vielleicht war das bei Dir umgekehrt. Fellini kam aus dem Neorealismus im Nachkriegsitalien, mit einem sehr realistischen Blick auf die Gesellschaft, und dann hat irgendwie seine Phantasie die Regie übernommen, die es ihm ermöglichte, die Absurditäten zu filmen, die er in seiner ganz eigenen Welt wahrnahm. Tati aber entnahm seine Szenen, besonders in Playtime, mehr oder weniger der Sphäre, die für die Wirklichkeit gilt. Verglichen mit Fellini, sieht die Welt bei ihm plausibler aus. Seine berühmte karussellähnliche Kreisverkehrszene ist vielleicht ein Kontrapunkt zum ebenso berühmten Verkehrsstau in Godards Weekend, aber auf jeden Fall irgendwie viel lustiger als bei Godard.

WOLFGANG: Genau, aber definitiv beeinflussen alle Filmemacher, die Du nennst, meinen Bild-Kosmos. Ich muss sagen, dass der Film insgesamt mich mehr inspiriert hat als viele stehende Bilder. Besonders spannend war für mich die Haltung der Autorenfilmer, die natürlich auch ein großes Vorbild für die Autorenfotografen waren. Bei aller Bewunderung für Fellini hatte doch Tati einen größeren Einfluss auf meine eigene Fotografie. Bei dem Versuch, Fotografien im Sinne des Surrealismus von Fellini zu machen, hätte ich das Gefühl gehabt, eine Bildwelt zu klauen, die nicht meine eigene ist.

BILL: Fellinis Welt ist ein künstliches Konstrukt, Tatis Welt aber spiegelt die absurden Realitäten im Paris und Frankreich der damaligen Zeit. Das ist ein spannender Gegensatz: Fellini konstruiert und Tati findet.

WOLFGANG: Dazu fällt mir auch ein Zitat von Tati ein. Die schönste Kritik, die er je bekommen hat, stand für ihn im Brief eines vierzehnjährigen Jungen, der schrieb, das Beste an dem Film sei gewesen, dass er sich nach Verlassen des Kinos in den Straßen fortsetzte. Das ist genau das, was Du eben beschrieben hast. Dieser Film sensibilisiert den Betrachter für den alltäglichen Wahnsinn. Deswegen fühlte ich mich in den 80er Jahren als Fotostudent in Dortmund wie der vierzehnjährige Junge, der die Filme von Tati gesehen hat und dann hinausging in die Welt, um im Westfalenpark Bilder zu finden, die wie eine Reise in die Kindheit wirkten.

BILL: Ich finde es immer sehr, sehr schön, verschiedene Orte, Menschen und Welten mit frischen Augen zu sehen. Das ist ein Geschenk, das Du uns mit den Bildern der letzten Jahre, besonders jetzt in , gegeben hast.

Bill Kouwenhoven (Baltimore, USA, 1961)
ist ein unabhängiger Kurator und freiberuflicher Kritiker, der abwechselnd in Berlin und New York lebt und arbeitet. Mit mehr als fünfundzwanzig Jahren Erfahrung ist er Autor von über sechzig Künstlermonografien und war Mitglied zahlreicher internationaler Jurys und Portfolio Reviews, vom Houston Fotofest über die Rencontres de la Photographie in Arles bis hin zu Kolga Tbilisi Photo, Georgien, und dem Daegu International Photography Festival in Südkorea. Er war Redakteur von Photo Metro, San Francisco, internationaler Redakteur von Hot Shoe, London, und verfasste Beiträge für zahlreiche europäische Publikationen wie das British Journal of Photography, PHOTONEWS, European Photography und photographie.com.

 

Rezensionen

Ambivalent, aber trotzdem präzise

Damian Zimmermann im Gespräch mit Wolfgang Zurborn
PROFIFOTO, Nr.12 Dezember 2022
 

Buch-Tipp: Play Time

3sat, 11.1.2022

Gegenstände und Szenen des Alltags, die aus dem Lot geraten: Mit ungewöhnlichen Perspektiven und radikalen Ausschnitten versucht Fotograf Wolfgang Zurborn in “Play Time” mit routinierten Bildvorstellungen zu brechen. Erschienen ist der Band in der Fotohof Edition.

 

Bildband des Monats

fotoMAGAZIN, 3/2022
 

Der andere Blick

PHOTOGRAPHIE, 3-4 | 2022
 

Neue Bücher

PHOTONEWS, Feb 2022

von Andreas Langen

 

Play Time

PROFIFOTO, 1-2 | 2022
 

Play Time

brennpunkt, 4 | 2022
 

Edition Fotohof: Wolfgang Zurborn - Play Time

von H.-G. v. Zydowitz

Mit seinen Fotografien einer Freizeit- und Medienkultur entführt Wolfgang Zurborn in seinem bei der Edition Fotohof, Salzburg, erschienenen Buch „Play Time“ in eine eigenwillige, skurrile Bilderwelt, in der Szenen und Objekte des alltäglichen Lebens scheinbar aus dem Lot geraten sind. Gleichzeitig forciert er im Stil des Filmemachers Jaques Tati, den er bereits in seiner Studienzeit in den 1980er Jahren für sich entdeckte, die Fragmentierung der Bildinhalte und versucht mit radikalen Ausschnitten, überraschenden Kompositionen und ungewöhnlichen Perspektiven mit routinierten Bildvorstellungen zu brechen.

 

LFI-DEZEMBER-SPEZIAL: FOTOBÜCHER, Folge 1

 

Spiel mit dem Urbanen

von Thomas Wiegand

Play Time – wer erinnert sich bei diesem Titel nicht sofort an den berühmten Film von Jacques Tati von 1967 über die Segnungen der Moderne? Wolfgang Zurborn (* 1956) hat diesen Titel für sein neuestes Buch mit Bedacht gewählt und gelegentlich Zitate von und über Tati mit seinen Bildern kombiniert. Wie immer bringt Zurborns Kamera Dinge zusammen, die eigentlich gar nicht zusammen gehören. Die urbanen Stillleben und Fragmente von Häusern, Straßen, Passanten, Werbung etc. haben einen gemeinsamen Nenner, nämlich den der Kunst: Gliedmaßen von Schaufensterpuppen, abgerissene Plakate oder Graffiti könnten Zitate von Kunstwerken sein. Oft werden zwei solcher Motive im Buch so zu Doppelseiten kombiniert, auf dass sie sich durch formale oder farbliche Korrespondenzen kommentieren oder unterstützen.

Zurborn erweist sich einmal mehr als aufmerksamer Beobachter und Festhalter flüchtiger Konstallationen, dieses Mal unter dem Patronat von Tati. Es war schwierig wie selten zuvor, passende Doppelseiten für diesen Buchtipp auszuwählen. Zu groß ist das Angebot, das Zurborn und sein Gestalter Frederic Lezmi machen!

 

Der Klang der Fotos

NaturFoto, 10/2021
 

Play Time

LFI-Dezember-Spezial Fotobücher, 12 | 2021
 

Falsche Paradiese

Beim Monat der Fotografie in Potsdam zefließen die Abbilder der Wirklichkeit

von Lena Schneider

Rezension zur Ausstellung “Floating Identities” im Kunsthaus sans titre, Potsdam, mit Arbeiten von KT Blumberg, Andreas Herzau, Nikita Teryoshin, Andrea Wilmsen und Wolfgang Zurborn
Kuratiert von Wolfgang Zurborn

 

Floating Identities

Fotoarbeiten von KT Blumberg, Andreas Herzau, Nikita Teryoshin, Andrea Wilmsen und Wolfgang Zurborn
brennpunkt, 4/2020
 

Zwischen den Identitäten

Ausstellung - Europäischer Monat der Fotografie
Ticket Tagesspiegel, Berlin, 8.-14.10.2020

von Steffi Pyanoe

 

Wolfgang Zurborn

iMAG, Herbst 2019

von Josef Snobl

 

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